Auf den Tag genau zu bestimmen, wann wir das erste Mal von dem neuen Corona-Virus gehört hatten, der sich in China verbreitete, ist uns nicht mehr möglich. Wir wissen es nicht mehr so genau. Das liegt daran, dass wir der Meldung damals nicht gleich große Beachtung geschenkt hatten. Es war in unserer Wahrnehmung auch nur ein neuer Grippevirus. Wir hatten damals auch nur sporadisch die Möglichkeit die neuesten Nachrichten zu erfahren. Immer nur dann, wenn wir an einem Ort gelangten, an dem es Zugriff auf das Internet gab. Das waren meist Cafehäuser. Aber selbst dann waren wir eher damit beschäftigt, die beste Route für die nächste Fahrradetappe oder die Lage einer günstigen Unterkunft zu googeln.
Wir befanden uns damals, Ende Februar 2020, im Norden Marokkos auf dem Weg nach Tanger. Mehr als 2500 geradelte Km am Nordrand der Wüste und der Küste lagen bereits hinter uns. Fast drei Monate waren wir nun unterwegs und unser Ziel war es, noch vor Ablauf von drei Monaten die spanische Exklave Ceuta zu erreichen, um dort ein paar Tage in "Europa" zu verbringen. Es war geplant, dann wieder in Marokko einzureisen, um die Reise mit einem frischen Visum fortzusetzen, denn unser Rückflug nach Hause war für den 29.03. ab Marrakesch bereits gebucht.
In Ceuta erfuhren wir über Messengerdienste von Freunden über leergekaufte Toilettenpapierregale in deutschen Supermärkten, was wir eher mit Belustigung zur Kenntnis nahmen und erinnerten uns daran, wie Jahre zuvor sehr viele ängstliche Deutsche die Apotheken stürmten um Tamiflu zu erstehen. In Ceuta ging das Leben seinen normalen Gang, es gab keine Knappheiten, von einer drohenden Krankheitswelle, gar von einer Corona-Pandemie sprach dort zu dieser Zeit niemand.
Wir hatten noch erwogen, auf das spanische Festland über zusetzen und nach einer Flugumbuchung von Spanien aus die Heimreise anzutreten. Uns scheuten damals der große Aufwand und die erheblichen Mehrkosten. Außerdem freuten wir uns darauf durch das Rifgebirge Richtung Marrakesch zu radeln. Dies sollte der krönende Abschluss unserer Reise sein.
Die Fahrradreise führte uns nach der Wiedereinreise in Marokko in die Orte Tetuan, dann Chefchaouen. Dort machten wir das erste Mal die Erfahrung, dass Jugendliche und Kinder mit Fingern auf uns zeigten und Corona, Corona riefen. Sogar ein Stein flog einmal. Diese Vorfälle häuften sich und wir beschlossen von Meknes aus den Bus nach Marrakesch zu nehmen.
In der großen, von vielen Touristen besuchten Stadt, verlief zu diesem Zeitpunkt das Leben noch wie gewohnt. Allerdings wurde immer öfter über Corona gesprochen.
Unser Flug sollte erst in 12 Tagen gehen und so deponierten wir unsere zerlegten und verpackten Fahrräder sowie den größten Teil unseres Gepäcks im Hotel Des Amis, einer kleinen Herberge in der Altstadt und fuhren mit dem Bus ca. 120 Km nach Essauoira, einer kleinen Stadt an der Küste, um dort noch die restlichen Tage zu verbringen. Zu diesem Zweck hatten wir eine kleine Ferienwohnung gemietet. Wir waren dort mit WiFi ausgestattet und hatten nun die Möglichkeit, die Nachrichten intensiv zu verfolgen.
In den ersten zwei Tagen, war das Leben in dieser Stadt noch weitgehendst normal, aber es wurde langsam deutlich, dass die Anzahl der Touristen in den Straßen abnahm. Das lag daran, das die großen Unternehmen ihre Pauschaltouristen nach und nach ausflogen. Das Auswärtige Amt in Berlin riet auf seinem Facebookaccount (nicht auf der offiziellen Webseite) den Individualtouristen an ihren gebuchten Rückflügen festzuhalten. Wir taten dies und erfuhren am nächsten Tag von unserer Fluggesellschaft, dass unser Flug gestrichen wurde, worauf wir bei einer anderen Airline einen anderen scheinbar noch freien Flug buchten, der kurze Zeit später auch gestrichen wurde. Ausländische Touristen waren inzwischen auf den Straßen kaum noch zu sehen.
Eines Abends bat das Auswärtige Amt, dass die noch in Marokko anwesenden deutschen Touristen mittels Webformular sich in eine Liste eintragen sollten. Dies war aber leider nicht möglich, da die Server in Berlin heillos überlastet waren. Am Vormittag des nächsten Tages erfuhren wir auf dem Facebookaccount des Auswärtigen Amtes, das ab 18:00 Uhr des selbigen Tages landesweit eine Ausgangssperre in Kraft treten würde und man sich bis zu diesem Zeitpunkt, egal ob Pauschal- oder Individualtourist, an einem der drei möglichen Flughäfen einfinden solle, nun nach dem Motto "rette sich wer kann". Man sprach damals von einer sogenannten Luftbrücke.
Wir erreichten Marrakesch nach Beginn der Ausgangssperre und hatten Glück dabei, denn es war schon schwierig einen Platz im Bus zu bekommen, die Emotionen kochten hoch und wir wurden Zeuge einer Prügelei zwischen Fahrgästen und Buspersonal auf dem Busbahnhof in Essauoira.
Auch die Ankunft in Marrakesch war ein gespenstisch anmutendes Unterfangen. Die Straßen der sonst so pulsierenden Stadt, wen wundert es, waren nun fast ausgestorben. Fahrzeuge mit Blaulicht von Polizei und Militär hatten die großen Kreuzungen besetzt. Auf unserem halbstündigen Fußweg zum Hotel Des Amis, es war inzwischen gegen 19:30 Uhr und somit 1 1/2 Stunden nach Beginn der Ausgangssperre, mieden wir die Begegnung mit der Staatsmacht, denn wir fühlten uns illegal. Dafür hatten wir noch einige Begegnungen mit wie es uns schien zwielichtigen Typen in den Seitenstraßen, die sich offenbar nicht um die Ausgangssperre scherten. Wir wissen nicht, ob wir bei diesem "Spaziergang" nun ernsthaft in Gefahr schwebten, aber wir waren doch froh, als wir die Altstadt und somit unsere Herberge erreichten. An ein Taxi zum Flughafen war an diesem Abend nicht mehr zu denken.
Am darauf folgenden Tag war es dann möglich, mit einem Taxi den Flughafen zu erreichen. Auf dem großen Parkplatz davor standen auffallend viele europäische Wohnmobile, von ihren Insassen war aber nichts zu sehen. Inzwischen hatten die marokkanischen Behörden die Fährverbindungen nach Europa gekappt und die Grenzen zu den spanischen Exklaven Ceuta und Meliha geschlossen. Ob man sich mit dem eigenen Auto noch auf marokkanischen Straßen bewegen durfte, war zu diesem Zeitpunkt völlig ungeklärt. Auf dem Flughafen war fast nichts mehr los. Ein Schalter im Terminal hatte noch geöffnet und fertigte Fluggäste nach London ab. Wir bezweifelten, dass jeder, der da zu diesem Zeitpunkt noch anstand, auch einen Platz in der Maschine bekommen würde. Auf Nachfrage ob und wenn ja wann noch ein Flug nach Europa ginge, erhielten wir die Auskunft, dass der Flughafen innerhalb der nächsten Stunde geschlossen würde. Die sogenannte Luftbrücke galt zu diesem Zeitpunkt als abgeschlossen. Start- und Landerechte wurden vorläufig nicht mehr erteilt.
Das Hotel Des Amis nahm uns nun für unbestimmte Zeit auf. Wir wohnten in einem sehr kleinen Zimmer, Dusche und WC waren drei Türen weiter. Das Gebäude verfügt über eine Dachterrasse auf der es sogar WiFi gab. Der Zugang zum Internet war für uns existenziell, was sich in den folgenden 5 Wochen täglich bestätigte. Die Unterkunft war einfach, aber was auch sehr wichtig war, sehr kostengünstig und die Preise wurden nicht auf Grund unserer Notlage erhöht. Im Gegenteil, man fragte uns, ob wir mit dem Preis Leben könnten. Ganz offensichtlich wollte der Hotelbesitzer aus unserer Notlage kein Profit schlagen. Wir waren sehr dankbar dafür.
Wir waren aber nicht die einzigen Gäste dort. In weiteren kleinen Zimmern lebten dort noch ein älterer Herr, ein Franzose und ein jüngerer, sporlicher Mann aus Belgien. Beide waren dort Langzeitgäste. Der Hotelmanager lebte natürlich auch in seinem Zimmer. So hatte sich also eine WG zusammen gefunden, die in der Zeit, in der wir uns dort aufhielten, recht problemlos miteinander auskam. Wir befanden uns meist alle auf der Dachterrasse, von der wir einen Ausblick auf den nun total verwaisten Hauptplatz der Altstadt hatten. So konnten wir die Polizei beim Patrouillieren zu schauen und hatten malerische Sonnenuntergänge hinter dem Minarett einer Moschee. Sehr viel Abwechslung gab es nicht, aber wir waren immerhin draußen an Luft und Sonne.
So gut wie die Luft war, der größte Teil des motorisierten Straßenverkehrs von Marrakesch war zum erliegen gekommen, so spärlich war leider unsere Versorgungslage. Im Umkreis von 300m gab es in den umliegenden Gassen drei kioskähnliche Buden. Dort besorgten wir Brot, Ölsardinen, Wasser, Kekse, Eier, Süssigkeiten, löslichen Kaffee und Zigaretten. Den Wasserkocher des Franzosen durften wir benutzen. Der Hotelmanager sorgte morgens für eine Art Graupensuppe, mittags für Couscous oder Bohnen. Manchmal brachte ein Nachbar ein paar Tomaten vorbei. Weiter als zu diesen kleinen Geschäften sollten wir nicht gehen, da wurde der Hotelmanager nervös. Er war um unsere Sicherheit besorgt. Der nächste Marktplatz war weiter weg, als die offizielle 300 m Regel erlaubte, wir wagten es nicht dort hin zu gehen. Die Anwohner der Gassen fuhren mit ihren Mopeds schnell hin und wir glauben, dass die Polizei dies auch tolerierte, aber wir befürchteten, dass es bei Touristen anders laufen würde. Außerdem konnte man in den Medien wie der Maghreb-Post auch lesen, dass der marokkanische Staat Missachtung der Regeln der Ausgangssperre drastisch bestrafte.
Große Probleme hatten mit Sicherheit viele Menschen, deren Einkünfte von den Geschäften mit Touristen abhängig waren. Angefangen bei der großen Zahl der Händler in den Souks , über die Handwerksbetriebe, die selbige beliefern, die Vielzahl der Gastronomiebetriebe usw., bis hin zu den Bettlern, die sonst in großer Zahl in den Gassen leben und fast vollständig aus dem Straßenbild verschwanden. Viele Menschen hatten in kürzester Zeit ihre Existenzgrundlage verloren. Inzwischen kann man lesen, dass in Marokko in den Kategorien Tourismusbranche, Dienstleistungen und Handel die größten Wirtschaftlichen Einbußen entstanden sind. Die unteren sozialen Schichten, dazu gehören auch Behinderte und Tagelöhner, waren von einem Tag auf den Anderen ohne Einkünfte.
Unser Aufenthalt in Marrakesch fiel auch in die Zeit des Ramadans. Unter normalen Umständen ist dies die Zeit, in der die Menschen Moscheen besuchen, welche aber unter den Bedingungen der Ausgangssperre geschlossen waren. Auch die traditionellen familiären Feiern zum Fastenbrechen waren nun nicht mehr möglich. Die Menschen konnten sich nicht mehr gegenseitig besuchen oder in Restaurants verabreden. Probleme wie häusliche Gewalt verschärften sich.
Im Nachhinein betrachtet, waren die ersten 1-2 Wochen auf der Dachterrasse in Marrakesch wohl die schwierigsten. Zum einen erreichten uns die Nachrichten über steigenden Fallzahlen und Todesraten der Pandemie, aber auch Grenzschließungen aus den europäischen Ländern, zum Anderen war nichts darüber zu erfahren, ob es absehbar wäre, dass sich unsere Situation ändern würde. Das Auswärtige Amt war noch immer damit beschäftigt, Gestrandete weltweit zu ermitteln, aber nach Informationen der deutschen Botschaft in Rabat war die Situation in Marokko wenig aussichtsreich. Der Luftraum war nach wie vor geschlossen, ebenso die Grenzen. Es wurde gemahnt, sich an die marokkanischen Notstandsverordnungen, es gab nun zusätzlich noch eine Maskenpflicht, zu unbedingt halten. Uns blieb nichts anderes übrig, als Geduld zu wahren.
Die deutsche Presse begann sich nun mit der Situation der gestrandeten in Marokko zu beschäftigen. So erfuhren wir, dass wir bei weitem kein Einzellfall waren. Über eine deutsche Auslandkorrespondetin erfuhren wir die Adresse einer Whatsapp-Selbsthilfegruppe von deutschen Gestrandeten in Marokko und traten der Gruppe bei. Zwei berliner Tageszeitungen traten zum Zwecke eines Interviews mit uns in Kontakt. Nun fühlten wir uns nicht mehr so isoliert und hörten von Gestrandeten, die größere Probleme hatten als wir. Den Leuten ging teilweise das Geld aus, sie hatten Probleme an dringend benötigte Medikamente zu kommen oder brauchten medizinische Hilfe. Viele hatten auch Angst, ihren Job in Deutschland zu verlieren.
Für große Aufregung sorgte eine Email des Auswärtigen Amtes, die uns erreichte, in der wir gefragt wurden, ob wir bereit wären, nach Paris auszureisen und das evtl. schon am darauf folgenden Tag. Wir erklärten uns natürlich dazu bereit und warteten auf gepackten Taschen auf weitere Informationen, die uns aber nicht erreichten. Die französische Regierung hatte ein paar Flüge mit der marokkanischen Regierung ausgehandelt. Ebenso gelang es einigen skandinavischen Ländern Gestrandete aus zufliegen. Es galt weiterhin Ruhe und Geduld zu bewahren. Inzwischen gab es auch die Nachricht, dass die Stadt Tanger für eine größere Anzahl von Wohnmobilen geöffnet worden war, für denen sogar eine Fähre bereitgestellt wurde.
In den Wochen des darauf folgenden Stillstands brodelten die Gerüchteküchen innerhalb der mittlerweile stark angewachsenen Whatsapp-Gruppe, bei vielen Gruppenteilnehmern lagen inzwischen die Nerven blank, sie hatten teilweise die Geduld verloren und es wurde viel diskutiert und gestritten. Es wurde zunehmend schwerer, echte Informationen von Gerüchten zu unterscheiden. Von offizieller Seite gab es kaum Neuigkeiten. Das Interesse der heimischen Presse schwand. Die Nachrichten über die pandemische Lage nicht nur in Europa wurden immer bedrohlicher.
Die Stimmung in unserer Dachterrassen-WG blieb aber konstant gut, obwohl das Leben nun recht eintönig geworden war. Wir lasen sehr viel und beschäftigten uns mit Webdesign. Der Belgier trainierte was das Zeug hielt, der Franzose telefonierte mehrmals täglich mit seiner Familie und spielte Computerspiele auf seinem Smartphone, der Hotelmanager reinigte das Haus und las im Koran. Inzwischen war die Zeit des Fastenmonats Ramadan gekommen. Der Hotelmanager stellte uns daraufhin seinen Gaskocher zur Verfügung und wir setzten uns nun über die Dreihundertmeter-Beschränkung hinweg und kauften auf dem Markt ein, was unseren Speiseplan erheblich erweiterte.
Dann gab es eine erneute Anfrage eines Mitarbeiters des Auswärtigen Amtes. Es wurde gefragt, ob wir Interesse hätten, einen Flug bei der polnischen Fluggesellschaft LOT zu buchen. Der Flug sollte nach Warschau gehen, die LOT würde sich dann in diesem Fall mit uns in Verbindung setzen. Natürlich signalisierten wir unsere Bereitschaft. Allerdings war unsere Hoffnung, dass es wirklich zu einer Buchung kommt, nicht sehr hoch. Nach unserer Erfahrung mit dem Flug nach Paris einige Wochen vorher, waren wir sehr skeptisch. Es passierte auch erst einmal zwei Tage nichts und wir gingen davon aus, dass aus der Sache erneut ein Flop würde, bis es dann doch einen Anruf aus Warschau gab. Wir buchten einen Flug nach Berlin, denn dort sollte die Maschine idealer Weise eine Zwischenlandung machen und überweisten den fälligen Betrag sofort. Noch während des Telefonates hatten wir die Buchungsbestätigung im Postkasten. Nun fingen wir langsam an, daran zu glauben. Selbst die Fahrradmitnahme und die Gepäckaufgabe von zwei mal 20 Kg waren bestätigt. Der Abflugtermin sollte drei Tage später stattfinden.
Am Morgen unseres Abflugtages fanden wir uns am Flughafen von Marrakesch ein. Selbst ein anderer deutscher Fahrradreisender, wir hatten die Wochen immer wieder Email-Kontakt, hatte es mit einer abenteuerlichen Taxifahrt von Nador nach Marrakesch geschafft und war gerade dabei sein Fahrrad in einem Karton zu verpacken. Bis es dann los ging, dauerte es und wir konnten es kaum glauben, als die Maschine in Berlin-Tegel aufsetzte. Die nächsten zwei Wochen in häuslicher Quarantäne konnten wir genießen.